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ANERWELTEN

SOLARPUNK: Mensch aus Menschen

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[by LUC FRANÇOIS]

“Wäre diese Gesellschaft ein Mensch, sie wäre ein Heroin-Süchtiger.”

Das war der erste Satz, den ich von dir gehört habe, damals vor zig Jahren. Sturzbetrunken bist du gewesen.

An den Namen der Bar kann ich mich nicht erinnern. Dafür nur zu genau an meinen ersten Eindruck von dir: Was für ein Trottel. So ein selbstgefälliger Pseudo-Nihilist, der sich dadurch überlegen glaubt, dass er “unbequeme Wahrheiten” ausspricht. Bloß schien dir die Beharrlichkeit zu fehlen, die solche Zeitgenossen gemeinhin auszeichnet. Kaum war der Satz ausgesprochen, hast du dich zu deinem Drink umgedreht und vergessen, dass es mich überhaupt gibt. Nun, das wäre bei deinem Durst so oder so passiert.

Dass wir uns nicht bloß wiedersehen, sondern in Professor Snyders Team zusammenarbeiten würden, haben wir damals beide nicht geahnt. Ein paar Monate später muss es gewesen sein – gerade so viel Zeit, dass mir dein Gesicht noch im Hinterkopf herumgespukt ist. Auch ohne Promille hast du nicht die beste Figur gemacht. Hast mir die Hand gereicht, mir sogar kurz in die Augen geschaut, und doch an etwas anderes gedacht. Gut, vielleicht hast auch du den Tag wie im Rausch verbracht und dir immer wieder vor Augen halten müssen, dass das echt ist. Dass du tatsächlich Teil von Snyders Team bist.

Du hast gelacht, als ich dir von diesen beiden Eindrücken erzählt habe. “Echt, so schlimm ist es gewesen?”

Mit der Zeit habe ich verstanden, dass es dir in dieser Bar nicht darum ging, mich irgendwie zu beeindrucken oder dich zu profilieren. Du hast nachgedacht, wie immer, eigentlich. Die Drinks haben dich lediglich dazu aufgestachelt, eine Fremde auf dein Gedankenkarussell einzuladen. Erst ein Jahr später bin ich dieser Einladung gefolgt und habe von dir wissen wollen, was genau es mit dieser Aussage auf sich hatte.

“Stell es dir nur einmal vor”, hast du losgelegt. Das ist typisch für dich: Immer willst du, dass sich die Leute etwas vorstellen. “Wir Menschen bestehen aus etlichen winzigen Organismen, die zusammen das Ganze formen. Dabei besteht eine klare Rollenverteilung: Es gibt Zellen, die bewegen, Zellen, die transportieren und natürlich auch Zellen, die lenken. Steht es nicht ähnlich um die Menschen in unserer Gesellschaft?”

“Und was genau hat das mit Heroin-Sucht zu tun?”

“Das liegt doch auf der Hand! Die Droge macht dich high. Gaukelt den einen Zellen das Paradies vor, während es dem Rest so richtig erbärmlich ergeht. Kein gutes Geschäft, oder? Blöderweise sitzen diejenigen Zellen am längeren Hebel, die beim Schuss auf ihre Kosten kommen. Selbst wenn es mit dem großen Ganzen steil bergab geht, lassen sie nicht locker, verlangen immerzu nach mehr. Sie laufen wider besseren Wissens auf den Abgrund zu.”

Ungefähr um die Zeit herum hat dir die Welt recht gegeben. Der Abgrund hat sich aufgetan, und holla, war das ein Sturz. Viele haben ihn nicht überstanden, aber zumindest zwei Zellen sind einigermaßen unbeschadet davongekommen – weil sie sich zusammengetan haben.

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Plötzlich ein “wir” zu sein, das war merkwürdig. Erst die prickelnde Art, wenn etwas neu ist und die ganze Welt eine Winzigkeit besser scheint, als sie eigentlich ist. Merkwürdig aber auch, weil unser Bindeglied stets die Arbeit gewesen ist. Und plötzlich war genau davon mehr als je zuvor zu bewältigen. Die Gesellschaft in all ihren Facetten ist unser Steckenpferd – beide könnten wir im Schlaf aufzählen, was sämtliche Gesellschaftsformen der letzten paar Jahrhunderte geprägt, gespeist und schließlich zu Fall gebracht hat. Wir waren gefragt, innerhalb der Branche sogar etwas wie Stars.

Merkwürdig allerdings auch das Zusammenleben, das von Arbeit erst bestimmt, dann erdrückt wurde. Immer weniger Platz für Erholung, für Zärtlichkeiten, für Zweisamkeit. Du bist darin aufgegangen, konntest nachts nicht stillliegen und hast dir am Morgen das Frühstück eiligst in den Mund gestopft – oder es gleich übersprungen –, bloß um mit der Kaffeetasse in der Hand loszulegen.

Merkwürdig dann die Zeit danach. Die Zeit, nachdem ich erkannt habe, dass du das kannst, aber ich nicht. Dass du am meisten strahlst, wenn du Probleme analysieren, Lösungen formulieren, Bücher wälzen und unser kleines Zuhause mit Notizzetteln fluten kannst. Für ein “Wir” ist kein Platz mehr geblieben, also hat sich das “Ich” retten müssen. Aber das ist in Ordnung, so funktionierst du nun einmal. Man muss es positiv sehen: Es hat mich durch die Krise getragen.

Dass wir weiter zusammenarbeiten? Nein, das finde ich nicht merkwürdig. Wir kennen uns. Helfen uns. Wissen, was der andere braucht, wenn es einmal nicht weitergeht. Wir funktionieren gut zusammen. Und wir werden gebraucht, erst recht seit Professor Snyder in den Ruhestand gegangen ist.

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“Es ist eine Art Experiment”, hast du mir die Neuigkeiten überbracht. “Ein stattliches Budget, eine mehr als ausreichende Testgruppe und alle Freiheiten, die wir brauchen.” Nie habe ich dich so begeistert erlebt. Aber was sage ich? Ich habe mich ebenfalls gefreut – auch wenn ich dann und wann in deinem Schatten verschwinde, habe ich nicht meinen Ehrgeiz verloren. Wir, du und ich, sollen zusammen die Gesellschaft von morgen konzipieren.

Und irgendwie, überrumpelt und übermüdet inmitten der Planung, da ist der Gedanke des Heroin-Süchtigen wieder aufgetaucht. Aus dem Vergangenen muss man schließlich lernen. “Wie also”, hast du gefragt, “können wir dieses Bild umformen, damit es am Ende funktioniert?” Anschließend haben wir uns hingesetzt, die Gesellschaft einmal mehr auf den menschlichen Körper mit all seinen Funktionen abgebildet und die Blaupause erst vorsichtig, dann immer rabiater abgeändert.

“Wichtig ist, ein gesamtgesellschaftliches Glücksempfinden anzustreben. Ob es gut oder schlecht läuft, alle sollen es zu gleichen Teilen spüren. Einen besseren Anreiz kann es nicht geben, damit alle am selben Strang ziehen.”

Ich habe dir recht gegeben.

“Aber eine Rollenverteilung ist unausweichlich. Es muss weiterhin solche geben, die lenken, die transportieren, die bewegen.”

Ich habe nicht schlecht gestaunt: Du hast die Worte von damals aufgegriffen. Hast den Plan all die Jahre in Erwartung einer passenden Gelegenheit mit dir rumgetragen. Entsprechend habe ich mich kleiner gefühlt – wie ein Figürchen, das brav nickt. Aber das sei schon richtig, habe ich bemerkt, die Welt sei ein komplizierter Ort. Und diese Komplexität müsse man herunterbrechen.

Irgendwann bist du losgelaufen. Erst von rechts nach links, dann immerzu im Kreis. Hast eine ganze Weile nichts gesagt und danach eine ganze Weile ohne Unterlass geredet. Darüber, dass dies eine einmalige Gelegenheit sei, die Altlasten der Vergangenheit über Bord zu werfen, die Weichen für morgen zu stellen und jetzt erst recht für eine möglichst gute Welt zu ackern.

Eine Gesellschaft, die nachhaltig funktioniert.

Eine Gesellschaft, in der man sich nicht fürchten muss.

Eine Gesellschaft, in der man aufblühen kann.

Eine Gesellschaft, die anderen als Vorbild dient.

Eine Gesellschaft, in der einem niemand dafür auf die Finger haut, wer man ist oder sein will.

Du hast den Heroin-Süchtigen umgebaut, jeden Tag in Gedanken eine neue Version angefertigt. Evolution, wenn man es so nehmen mag, nur handgemacht und in größerem Maßstab.

Und du hast dich in Zahlen vergraben, hast deine Tüfteleien am Snyder-Ishikawa-Index abgeglichen, ihnen das Babanin-Modell übergestülpt und sie an der Liebnitz’schen Skala gemessen. Aus allen Richtungen bist du gleichzeitig vorgerückt, um dich am Ende zu mir umzudrehen und mit zerzaustem Haar und blutunterlaufenen Augen ein heiseres “Wir können das schaffen” an mich zu richten.

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In der alten Gesellschaft ist es für Akademiker eher unüblich gewesen, vor Staunen kein Wort herauszubringen. Selbst dir hat es die Sprache verschlagen, als das Projekt nach fast zwei Jahren der Planung angelaufen ist. Freiwillige, laut der Mail von letzter Woche sind es an die Hunderttausend. Hun-dert-tau-send! Ein Städtchen, das seit den Unruhen mehr oder weniger brach liegt und scheinbar nur auf uns gewartet hat. Dazu Fördermittel, die meinen Horizont um die eine oder andere Null übersteigen.

“Hier können wir vor den Augen der Welt ein Paradies errichten.”

Ich habe zu dir rübergeschaut. Habe gesehen, wie sich hinter deinen Augen schon die nächsten Rechnungen aufbauen, wie Abläufe koordiniert werden, wie sich das Leben einpendelt. Durchaus, ich bewundere dich dafür, aber ich hätte mir gewünscht, du würdest auch mich ansehen.

Immerhin ist es unser Projekt.

Der Gedanke ist rasch verflogen, so viel haben wir auf einen Schlag erledigen müssen. Bei allen Geldern und Mitteln, dem breit gefächerten Know-How innerhalb der Testgruppe und all den vielen erfreulichen Dingen zu Projektbeginn ist mir doch erst in dem Moment etwas klar geworden: Das wird eine verdammt anstrengende Zeit.

Wir haben im Vorfeld so viel organisiert wie nur möglich, haben ein Monstrum aus Konferenzen und Mails bezwungen, Pläne aufgestellt, verworfen, verfeinert, verknüpft. Haben ein Team um uns aufgebaut, Menschen geschult und die Vision mit ihnen geteilt. Wir haben die Straßen dieses Städtchens mit Grundsteinen und guten Vorsätzen neu gepflastert, damit es am Ende so weit wie nur möglich selbsterhaltend, gerecht und ebenso lebenswert wie lebhaft ist. Unser Herzblut haben wir in jeden einzelnen Fleck gepumpt, haben die Enttäuschungen der Vergangenheit in Gelegenheiten für die Zukunft verwandelt und sind am Ende doch nie ohne einen Kopf voller Sorgen, Zweifel und Überlegungen zu Bett gegangen.

Bereits die erste Woche hat uns gezeigt: Das ist es wert gewesen. Die Welt draußen funktioniert nur mehr mit Abstrichen – erheblichen Abstrichen. Unsere Welt hingegen, die erblüht. Sie scheint besser, sicherer und schöner als es die alte Welt je gewesen ist.

Eine besondere Komponente ist die Vernetzung. Darauf hast du großen Wert gelegt: Wenn es funktionieren soll, müssen die Menschen auf ebenem Grund stehen und einander mit Respekt und Wertschätzung begegnen. Dazu haben wir Konzepte entwickelt, bei denen die Bewohner unseres Städtchens einander treffen, sich austauschen und auch ihre kleinen Konflikte an Ort und Stelle austragen. Sie sollen sich sehen, ganz gleich, ob sie nun Dinge bewegen, transportieren oder lenken. Und sie sollen lernen, einander zu verstehen.

Auch ich selbst habe an einer dieser Aktivitäten teilgenommen – unerkannt. Eine dezent aus der Zeit gefallene Brille, eine andere Frisur und etwas Puder im Gesicht haben ihren Dienst geleistet und dafür gesorgt, dass mich niemand erkennt. Wie sollte man auch, bin ich doch ausnahmsweise einmal ohne dich losgezogen? Das habe ich für mich allein erleben wollen.

Ich sei im Bereich der Bildung tätig, habe ich vorgegeben, und ich habe mich mit einer Reinigungskraft, einem Lagerarbeiter und einem Mitglied der Stadtverwaltung ausgetauscht. Es ist ein ruhiger, aber für mich sehr erhebender Abend gewesen.

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Zum hundertsten Tag seit Projektbeginn haben wir eine kleine Fete organisiert. Offene Bühnen stadtweit und reichhaltige Verköstigung aller Art. Dazu bestes Wetter, um draußen zu verweilen und das Miteinander zu erleben.

Auch diesmal bin ich alleine losgezogen, jedoch ohne Verkleidung. Ich habe mich in dem sonnen wollen, was wir gemeinsam mit all diesen Menschen aufgebaut haben, ohne mich dabei in deinem Schatten wiederzufinden. Es ist ein wundervoller und wundervoll anregender Tag gewesen, der mir allerlei neue Ideen eingepflanzt hat. “Kann es denn wahr sein?”, habe ich mich dabei wieder und wieder gefragt. “Haben wir wirklich Hals über Kopf eine Gesellschaft geschaffen, die funktioniert?”

Ich habe an dem Abend getrunken, das gebe ich zu. Vielleicht sogar mehr als du damals, als du mit dem Heroin-Süchtigen über mich hergefallen bist. Schon komisch, wie weit wir zusammen gekommen sind. So kann es gerne weitergehen.

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Tag Zweihundert enthüllt dies alles als bloße Illusion. Wir sind übermüdet. Überarbeitet. Überfordert. Das hat uns der Beamte am Eingang so bescheinigt. Vor uns sitzt Leo, über dessen Treiben wir seit Wochen reden. Leo, dem angelastet wird, das friedliche Miteinander in unserem Städtchen mit seiner Bewegung nicht nur sabotiert, sondern voll und ganz zerstört zu haben. Leo, an dessen Fersen du dich vor Wochen geheftet hast – aus dir hätte ein guter Polizist werden können. Nun wirst du mit ihm sprechen, und wie ich dich kenne, geht es dir in erster Linie darum, ihn zu verstehen.

“Sie und Ihre Leute haben Unruhen ausgelöst.” Du lehnst dich nach vorn, kommst gleich auf den Punkt.

Leo erwidert die Geste. Ihr spürt den Atem des anderen. “Tut weh im Ego, oder?”

Ich sitze neben dir, aber ebenso gut könnte ich in der Ecke stehen oder draußen einen Spaziergang unternehmen. Ihr beiden, das sieht man sofort, seid von einem ähnlichen Schlag. Ich frage mich, ob ihr das ebenfalls merkt. Ob ihr euch deswegen gleich anfeindet, oder ob das ein Spiel ist, das nur ihr beide versteht.

“Mit Halbwahrheiten – um es großzügig auszulegen, haltlosen Anschuldigungen und plumper Meinungsmache haben Sie diese Menschen angestachelt. Ich gehe davon aus, dass Sie sich dessen bewusst sind.”

“Bin ich.”

“Wie ein stumpfer Unruhestifter kommen Sie mir dagegen nicht vor.”

Du merkst es nicht, aber du ahmst Leos Bewegungen nach. Die zugespitzten Lippen während der vorgeschobenen Denkpause, die langsame Atmung, ihr gleicht euch an.

“Dabei bin ich bloß ein Niemand. Ein Mechaniker, kein besonders Guter dazu. Sie hingegen sind – nein, waren – eine Ikone. Der Kopf hinter der Gesellschaft von morgen.”

Er prallt an dir ab, dieser Schuss. Dabei wissen wir beide, dass das Projekt gescheitert ist. Zu viele Menschen, die einander misstrauen. Zu viele, die fordern, gehört zu werden, obschon sie nichts zu sagen haben und nie etwas gesagt haben wollen.

“Und als Mechaniker, da haben Sie sich von einem Tag auf den anderen entschieden, einen Aufruhr loszutreten. Die Leute glauben zu lassen, es gäbe eine Macht, die sie kleinhält, bloß damit Sie aufsteigen können.”

“Falsch.”

Ihr seht euch einen Moment lang an, ich möchte am liebsten verschwinden.

“Sie ist schön und gut, die heile Welt, die Sie hier ausgebreitet haben. Alles hat seine Ordnung, alles ist zufriedenstellend, aber alles ist fade. Es ist schön gedacht, das will ich durchaus anerkennen. Aber ich habe keine Lust, Teil davon zu sein. Ich habe mich mit vielen Menschen unterhalten – so geben Sie es schließlich vor –, und dabei hat sich mein Eindruck immer mehr verfestigt: Es geht nur seitwärts.” Er schüttelt den Kopf. “Ihr Städtchen, das ist wie ein Mensch, der tagein, tagaus bloß rumliegt.”

“Der rumliegt?”

“Verstehen Sie nicht, was ich meine? Der Tag war lang, ein Stündchen Sport in der Sonne, danach gemütlich gegessen mit Freunden und Familie. Ein schwüler Abend, man legt sich nieder, bettet den Kopf und das Kissen und findet, das alles sei doch prima. In dem Moment kriecht der Schlaf heran, aber er lässt sich Zeit.”

Du stehst auf, lässt dich von den Füßen durch diesen Raum tragen, der nicht mehr als einen Tisch und ein paar Stühle umfasst. Bist in Gedanken längst woanders, das sehe ich.

“Ich verstehe”, sagst du schließlich. “Ich sehe diesen Menschen jetzt. Er ist träge. Er hat’s gut, und damit ist er zufrieden. Es gibt nichts, was ihn mehr zum Aufstehen bewegt.”

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Wir verlassen nach Stunden das Gebäude, die Sonne blendet uns. Er hat es nicht länger gut, dieser Mensch. Er könnte in dieser Sonne liegen und diesen herrlichen Tag genießen, aber er hat sich eine Krankheit eingefangen. Erst eine Zelle, dann zwei, dann vier, dann acht, dann sechzehn. Anfangs haben sie sich abgeschottet, haben sich vermehrt, dann sind sie über den Rest hergefallen.

“Wenn unser Städtchen ein Mensch wäre …”, setze ich an.

“Ein Tumor, ich weiß.”

Wir gehen nebeneinander her, betrachten die Schneise der Zerstörung, Überbleibsel der Unruhen. Die Schmierereien – “Leben unter dem Deckel”, “Eingefangen! Eingegangen!” – können wir wegwischen, die Schäden ausbessern, die Betroffenen entschädigen. Können den Schmerz lindern, aber die Bewegung können wir nicht länger bremsen. Sie hat Fuß gefasst, Schwung genommen und ist über unser Städtchen hinweggefegt.

“Wir werden von vorne anfangen müssen. Alles überdenken, um es beim nächsten Mal besser zu machen.”

Ich bleibe stehen, du siehst mich an. Lächelst mir sogar zu.

“Schon merkwürdig, dass es nicht reicht, wenn alles bloß schön und zufriedenstellend ist. Dass sich die Leute, egal wie gut sie es haben, trotzdem aufstacheln lassen. Aber du hast die Sache schon treffend beschrieben, es ist ein Mensch der liegt und nicht von der Stelle kommt.”

Mir schießt das Blut in den Kopf, aber du gehst einfach weiter. Ein paar Schritte zumindest, bis du bemerkst, dass ich dir nicht folge.

“Was ist denn? Hast du geglaubt, ich nehme diesem Leo ab, das alles ginge von ihm aus? Ein Mensch, der tagein, tagaus bloß rumliegt … So etwas sage nur ich. Und vielleicht jemand, der will, dass ich zuhöre.” Du schüttelst den Kopf. “Früher oder später wäre von selbst einer drauf gekommen. Hätte sich vor die Leute gestellt und ihnen das Blaue vom Himmel versprochen, bloß um auf seine Kosten zu kommen. Ich dachte, unser Städtchen sei besser auf diese Art Rattenfänger vorbereitet.”

Ich komme mir schäbig vor. So schnell hast du mich also durchschaut? Wir kennen uns zu gut, du und ich. Aber ich wusste nicht, wie ich es dir sonst sagen soll. Du bist so stolz und voller Zuversicht gewesen, und ich … Ich habe gespürt, wie sich die Zweifel mehren. Würde ein Stoß in die falsche Richtung unsere kleine Welt unwiederbringlich aus dem Gleichgewicht bringen? Ich habe es ausprobieren müssen. Habe einen aufstacheln und mit den richtigen Gedanken füttern müssen, um es selbst zu sehen: Auch du kannst dich irren.

“Es tut mir leid.”

Du winkst mich zu dir, ich verstehe nicht warum. Gekränkt wirkst du nicht, obwohl ich dir in den Rücken gefallen bin. “Diese Stadt ist jetzt Geschichte”, sagst du. “Aber Geschichte ist wie eine Patientenakte: Dieser Patient schafft es nicht, das ist schade, doch wir lernen daraus. Passen die Dosierung der Medikamente an, feilen an der Diagnose und schlagen dem Tumor beim nächsten Mal ein Schnippchen.”

Und wie du mich ansiehst, glaube ich dir das sogar. Ja, beim nächsten Mal machen wir es besser.

Author

  • Luc wurde sein ganzes Leben lang liebevoll als Spinner bezeichnet, was er als Aufforderung zum Verfassen etlicher Fantasy- und Science-Fiction-Geschichten verstanden hat. Als Frontmann der Band Mindpatrol zeigt er außerdem, dass er ganz doll laut schreien kann. Manchmal kombiniert er beides, was er dann als "künstlerisch wertvoll" bezeichnet.

    https://www.facebook.com/LucFrancoisAutor
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