(Text by Joël Adami)
Dieser Text ist mit Hilfe folgender Dinge entstanden:
Einer leeren Dose Hard Seltzer (nicht empfehlenswert!), ungefähr 15 Einweg-Essstäbchen, einem Tarot-Deck und dem Journaling-Game „Channel 36 -The Void Caller“.
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12. Juli
Ich muss das hier alles aufschreiben. Anders werde ich es mir selbst nicht mehr glauben. Es ist lediglich die zweite Woche dieses Ferienjobs und eigentlich würde ich ihn gerne schon wieder hinschmeißen. N. (meine*r Partner*in) meint, ich solle kündigen. Zu viel weirder Scheiß passiert hier. Immerhin begann diese Nacht halbwegs problemlos. Problemlos, das sollte eigentlich alles hier sein. „Drei Knöpfe und ein Telefon, mehr brauchst du nicht!“, hatte Jeff (Jeff der Chef) es ausgedrückt. Ich hätte ahnen müssen, dass niemand ernsthaft so viel Geld für die Nachtschicht bei einem regionalen Fernsehsender zahlt.
Im Werbeblock gab es schon wieder Probleme, diesmal bei der Werbung für diesen Elektrohandel. Die Farben alle viel zu grell und ich könnte schwören, dass der Anzug der Geschäftsinhaberin eine Farbe hatte, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Wie auf einem Spektrum, zu dem ich sonst keinen Zugang habe. Prompt rief auch schon die Besitzerin an und beschwerte sich. Sie habe extra alle Fernseher in ihrem Schaufenster auf unseren Kanal gestellt, und dann das. Ich hörte zu und drehte an dem Magnetometer. Oder so. Ich nenne jeden dritten Knopf Magnetometer, so wie ich im Physikunterricht jeden zweiten griechischen Buchstaben „Mü“ nannte, weil ich den richtigen Begriff vergessen hatte.
In der – ich glaube Wiederholung? – dieser Politik-Talk-Sendung, in der zwei alte Frauen über die aktuelle Lage (oder das, was sie dafür halten, let’s be honest) reden gab es ein Tonproblem. Ein lautes Dröhnen, als würde die Erde demnächst aufreißen und das Studio verschlingen. Ich konnte nicht feststellen, ob es nur im Studio oder auch auf dem Sender war. Im Notfall gäbe es immer noch die Badewanne. Aus irgendeinem Grund gibt es hier ein ganzes Badezimmer, wie frisch aus dem Katalog. Bei einem Erdbeben oder so soll man sich doch in die Badewanne legen? Oder war das ein Atomschlag?
13. Juli
Warum um alles in der Welt läuft hier seit einer halben Stunde einfach eine Aufnahme eines Mannes, der einen Anzug mit Zebrastreifen trägt? Und wie kann der Platz vor der Bibliothek, mit seinen vielen Cafés, am helllichten Tag so leer sein? Weniger später war nur der leere Platz zu sehen und der Ton des Wetterberichts von RTL war zu hören. Am Programm stand eigentlich „Lokale Geschäfte, lokaler Genuss!“ Einige Stunden später, gegen 2 Uhr morgens, eine Erdbebenwarnung, als habe sich das Regierungs-Notfallprogramm eingeschaltet. „Die Maschine vom Großherzog“ hatte Jeff (Jeff der Chef!) das genannt. Nachgesehen: Die Maschine lief nicht. Danach wieder normales Programm. In der Schublade eine Figur aus einem Ü-Ei gefunden. Genau so eine hatte ich als Kind. Happy Times.
14. Juli
Liveschaltung in eine Straße (die von Jeff?). Merkwürdige Lichter tanzten. Dazu eine verzerrte Stimme, die Yoga-Anweisungen gibt. Alles normal hier. Später, fünf Minuten lang diese Logo-Animation, die aussieht wie drei Buttplugs. Die Farben wieder merkwürdig, ungesehen. Vielleicht wäre es gut, wenn dieser Sender vom Erdboden verschluckt würde. Weniger weirder Scheiß, an dem sich Kiffer*innen beim Zappen erschrecken können.
15. Juli
21h34: Krächzende Stimme, nicht monoton, keine Computerstimme, eher wie vorgelesen: „Verlassen Sie diesen Ort. Es droht Gefahr. Verlassen Sie diesen Ort. Es droht Gefahr.“ Dahinter der normale Ton des Werbeblocks. Herunterfahren des Faders am AUX-Eingang (nichts angeschlossen) am Mischpult ließ sie für ein paar Sekunden verschwinden. Danach wieder lauter.
3h22: Das Gesicht des Bürgermeisters (?) erscheint in Schwarz-Weiß. Drei Minuten lang, wortlos. Unmöglich, wegzuschauen.
4h01: Werbung für Fuchsbandwurm-Medizin. Wirkt, als wäre sie an Füchse gerichtet.
Hätte ich die Ferien nicht einfach im Schatten der Uni verbringen können?
16. Juli
Die Nächte am Wochenende übernimmt Jeff (Jeff der Chef). Vor dem Schlafengehen kurz reingeschaut. Alles normal, also nichts wie immer.
18. Juli
Wieder dieses Dröhnen hörbar. Als würde die Erde beben, nur anders, tiefer. Statt lediglich der Erdkruste rüttelt der ganze Mantel, sodass hier oben nur dieses Dröhnen ankommt. Bild dazu: Live-Schaltung in die Fußgänger*innenzone. Erstaunlich viele Plastiktüten im Wind. Alle Kabel am Mischpult überprüft, nichts gefunden, was das Dröhnen auslösen könnte. Scheißangst bekommen. Beim nächsten Blick auf den Bildschirm: 2. Weltkriegs-Dokumentation, ohne Bild- oder Tonprobleme.
19. Juli
Wie oft wollen sie dieses Fußballspiel noch wiederholen? Das eine Mal, dass der lokale Verein gegen einen internationalen Gegner spielen durfte und gleich spielte, und es wird gefeiert als wäre es der Titel. Gegen Ende in weißen Großbuchstaben eingeblendet: DAS FLEISCH IST WILLIG.
Halbe Stunde später, während des „Panorama“ (so Panorama-mäßig ist die Aussicht nicht, aber das traut sich niemand zu sagen), liest jemand eine Zahlenreihe: 987, 305, 69, 265, 84, 441, 337, 317, 768, 298, 973, 137, 48. Nicht die Lottozahlen. Später Wiederholung von „Gone with the Wind“. Public domain ist schon cool. Aber wer wählt den ganzen Scheiß hier aus? Alles wirkt so random, und Jeff (Jeff der Chef!) wirkt nicht so, als würde er creepy Kunst besonders wertschätzen. Vor allem tut er immer so, als habe er noch nie von all den Problem gehört.
Im Keller gibt es eine Tür, hinter der Wasser ist. Jeff meinte, sie dürfe auf keinen Fall geöffnet werden, sonst würde alles untergehen.
20. Juli
Manchmal habe ich das Gefühl, 50 Prozent des Nachtprogramms besteht aus gemeinfreien Filmen. Und der Rest … na ja. Diesmal wurde „The Last Man on Earth“ von Yoga-Anweisungen begleitet. Es sind immer andere. Ob ich sie mitmachen sollte? Der Gedanke ist seltsam anziehend.
2h41: Anruferin beschwert sich über die schlechte Bildqualität. Hier wirkte alles wie 4k HD.
21. Juli
An die Figur aus dem Ü-Ei gedacht. Sie ist immer noch in der Schublade. Ich mag es, wie in diesem Ort solche Dinge aus meiner Kindheit auftauchen. Nicht so sehr mag ich den Erdbebenalarm, der einfach so auslöst und nichts mit „der Maschine“ zu tun hat. Jeff (Jeff der Chef!) weiß nie etwas davon. Danach, als wäre nichts gewesen, eine Einblendung des Texte von „Herr der Ringe“, eine halbe Stunde lang, im Affenzahn. Ob das noch unter Kunstfreiheit fällt? Wieder unmöglich, wegzuschauen, nicht einmal um etwas zu trinken.
22. Juli
22h33: Viele verschiedene Clips schnell hintereinander geschnitten, oft nur Bruchteile von Sekunden. Klang wie eine Botschaft, irgendetwas mit „die Knochen bleichen, die … ätzen“. Danach Senderlogo für „Fuchsbau-TV“, ein rotes, sich drehendes 3D „F“, das sich dann in einen Fuchsschwanz verwandelte.
22h51: Nochmal das Fuchsbau-Senderlogo, diesmal auf dem Kopf, ohne Ton.
2h02: Überwachungsvideo einer Kläranlage. Es sah aus, als würde jemand … oder etwas … darin schwimmen.
23. Juli
N. meint, ich sollte den Job besser aufgeben. Bin mir sicher, dass Jeff (Jeff der Chef) mir kein partielles Gehalt auszahlen würde.
25. Juli
Die Woche beginnt wieder mit dem Grummeln. Nichts am Mischpult ändert irgendetwas. Nach einigen Minuten vorbei, als die Dokumentation über die keltischen Steine im Wald anfing.
04h23: Das, was in der Kläranlage schwamm, blitzte auf dem Bildschirm auf. Ich bin mir sicher, es gesehen zu haben.
04h55: Stimme, sehr tief: „Nichts, was rollt, bleibt in Bewegung. Nichts, was steht, wird nicht rollen. Der Abgrund verschluckt alle.“
Am heutigen Sendeplan stand unten eine Adresse vermerkt, mit dem Wort „Reg.“ Es ist in Jeffs (Jeff der Chef!) Straße, aber definitiv nicht sein Haus. Rainer? Regisseur? Regierung?
26. Juli
Dokumentation über die alte Schuhfabrik, die schon seit Jahrzehnten nicht mehr existiert. Das Material sah dennoch sehr … neu aus.
0h23: Newsticker im unteren Bildrand: „Fuchs im Wald gesichtet. Keine toten Gänse gefunden.“
1h42: Text über dem Bild (Werbung für den Golfplatz): „BLUTIGE FETZEN“
2h10: Tour durch die Studios von reneGAT-TV. Jeff (Jeff der Chef) sitzt in seinem Büro, spielt mit der Ü-Ei-Figur und lächelt in die Kamera. Die ganzen fünf Minuten über Gänsehaut am ganzen Körper. Hab das jedes Mal vor Augen, wenn ich versuche einzuschlafen. N. ist immer noch der Meinung, ich solle kündigen.
27. Juli
Erdbebenwarnung, diesmal so voller Störstreifen, dass es kaum zu erkennen ist. Licht fällt kurz aus, aber alle Bildschirme und der Ton lief weiter. Was ist das hier für eine Bruchbude? Danach ein Film, von dem ich mir relativ sicher bin, dass er Szenen aus Jeffs (Jeff der Chef!) Kindheit zeigt.
Adresse (vom 25. Juli) recherchiert. Habe einen Namen, er beginnt nicht mit R.
4h55: Fünf Minuten lang Testbild. Höre das Fiepen immer noch. Nichts half, oder zumindest wirkte es so.
28. Juli
Alte Nachrichten, zeigen den Fall der Berliner Mauer. Das war doch im Herbst?
Die keltischen Steine im Zeitraffer, eine Stunde lang. Warum heißt es Zeitraffer, wenn es mir nicht gerafft vorkommt?
Kindersendung aus den 1990ern. Fast alle Spiele beinhalten, dass irgendwer irgendetwas mit „Schleim“ machen muss. Ist heute Nacht Bootleg-Nacht?
Wieder die Kläranlage. Diesmal sah es so aus, als würde jemand mit einem Köcher drin fischen.
Umschlag mit meinem Namen drauf gefunden. Drinnen nur ein Zettel mit den Worten „Grabe nicht zu tief, sonst wirst du ein flaches Grab finden.“ Ist das etwas Jeffs (diesmal nicht) Sinn für Humor?
29. Juli
Überlegt, ob ich wegziehen soll und auf das Geld pfeifen. N. hält es für eine gute Idee, aber N. sieht nicht meinen Kontostand. Und N. ist alles, was mich noch hier hält.
Anderthalb Stunden lang Standbild und nur Ton. Als würde ein Tier durch den Wald hetzen, teilweise knurren, teilweise klang es nach Todeskampf. Danach eine Folge „Alle unter einem Dach.“ Wo auch immer Jeff (Jeff der Chef!) die Rechte dafür herhat.
Warum werden hier alte „Duck and Cover“-Videos gezeigt? Ich wusste nicht, dass es die hierzulande überhaupt gab.
Immer mal wieder auf Jobseiten geschaut. Ein Kunstradio sucht jemanden, der die Nachtschicht übernimmt. Ha ha ha.
1. August
Bei der Adresse gewesen. Jeff (Jeff der Chef!) gesehen, wie er den Briefkasten öffnet und ein braunes Paket herrausgenommen hat. Die Bänder für heute Nacht?
Wieder Wetterbericht eines anderen Senders als Ton über dem Werbeblock. Zum Glück hat niemand angerufen, bevor ich den Strom im Keller ausschaltete und alles danach alles neu startete (bis auf das Band, logischerweise).
Drei Stunden später: Yoga-Anweisungen, aber diesmal als Text. Als wüsste jemand, dass ich bei Tonstörungen eher eingreife … Ich konnte mich sekundenlang nicht bewegen. Bin mir nicht einmal sicher, ob ich wirklich geatmet habe. N. meint, sier kann mich jederzeit abholen, wenn es mir nicht gut geht. Aber ob N. auch mit mir wegfahren würde, wenn es wirklich nötig wäre?
2. August
01h25: Wieder das Gesicht des Bürgermeisters. Scham und Angst.
01h57: Plastiktüten der Fußgängerzone. Wiederholt sich alles?
02h15: Ausschnitt aus einer Nachrichtensendung. Eine Ente und ein Schwan sind ein Liebespaar?
02h19: Eine Stimme, kratzig und tief: „Lecken Sie ihre Briefmarken schön gründlich und ausgiebig!“
Manchmal finde ich einfach alles lustig. Ich stelle mir vor, dass Jeff (Jeff der Chef) einfach alle trollt.
3. August
Die Badewanne wirkt nicht so, als wäre sie erdbebensicher.
Eine alter Film über das Titanic-Unglück. Mir kommt es vor, als hätte ich den schon mal gesehen, aber ich wüsste nicht, wann das gewesen sein soll?
Telefon klingelte gegen 2 Uhr. Verwählt. Danach startet ein Lehrfilm über „Das Wunder der Osmose“. Warum tue ich mir das hier alles an? Bin mir immer noch fast sicher, dass sich am Ende alles als Kunstprojekt herausstellt, auch meine Rolle. Die ganze Nacht plapperte ich „Das Wunder der Osmose“ vor mich hin, als wäre es ein Ohrwurm. So hypnotisch.
4. August
Vertrag gelesen. Ich kann jederzeit kündigen und werde anteilsmäßig ausbezahlt. N. meinte, dass sier das immer gesagt hat. Ich weiß nicht, ob ich es noch länger an diesem Ort aushalte.
Alle Sendungen voller Schnee und Artefakten.
5. August
Wieder die Kläranlage. Diesmal sah es aus, als würde jemand in Kapuze und langem Mantel mit einer altertümlichen Barke darauf fahren. Was ist mit der Kläranlage? Im Studio ist es eiskalt, trotz Hitzewelle.
8. August
Kündigung eingereicht. N. will heute losfahren.
9. August
Jeff (Jeff mein früherer Chef!) an der Tankstelle gesehen. Er trug einen Cowboyhut. Niemand trägt hier Cowboyhüte, vor allem nicht Menschen wie Jeff.
12. August
Endlich in Sicherheit. Ich muss immer noch an der Geräusch denken, das wir hörten, als wir an der Kläranlage vorbeigefahren sind. Und Jeffs Blick, wie er mit seinem Cowboyhut und verspiegelter Sonnenbrille an der Tankstelle stand und sah, wie N. und ich mit dem vollgepackten Auto los sind. Ich weiß, dass ich seinen Blick nicht sehen konnte, aber ich habe ihn gesehen. Es ist besser, hier weg zu sein. Ich wünsche allen in , dass sie weg können, bevor es zu spät sein wird. Manchmal lohnt es sich, den lokalen Fernsehsender zu sehen.