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ANERWELTEN
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(Text by Luc François)

Als der Riese über das Dorf herfiel, trieb sich der Jägerssohn Aaron gerade im nahen Wäldchen herum. Noch bevor aus der Ferne das tiefe Ächzen herüberdrang, und der Boden unter den stampfen Schritten erzitterte, verrieten die Tiere sein Kommen. Sie hatten eine schlimmere Bedrohung als den Menschen erkannt. Überall knackte und knarrte das Gehölz, während die großen wie kleinen Waldbewohner das Weite suchten.

Aaron hingegen hielt geradewegs auf das Dorf zu. Er musste helfen! Als Sohn eines Jägers, der ja wohl der nächstbeste Verwandte des Kriegers war, gehörte es sich so. Mit einem spitzen Stock bewaffnet, wollte er es angehen: Er würde an ihm hochsteigen, erst am Bein entlang, dann die Brust hinauf, bis ganz nach oben, um den Koloss schließlich mit einem gut gezielten Stich zu erlegen. So ließ Aaron die schützenden Baumkronen hinter sich und stürmte hinein in die Staubwolke, die sich über die platt getretenen Häuser und Scheunen, das Vieh und die Menschen gelegt hatte. Die Mutter, die am Morgen noch lieblich gesungen hatte, der Vater, der an diesem Nachmittag seine Messer hatte wetzen wollen, der Schmied, die Zwillinge vom Hügel, das Mädchen mit dem pfiffigen Zopf, der Hund, der nachts immer bellte … alle waren sie tot. Achtlos niedergetrampelt.

“Das zahle ich dir heim!”, rief Aaron dem Koloss zu. “He, warte gefälligst!”

Ein einziger Schritt des Riesen kam mehreren Dutzend Hopsern des Jägerssohns gleich, sodass die Verfolgung aussichtslos war. Dennoch mühte sich Aaron ab, rief nach dem Unhold, drohte ihm und fluchte, doch reichte seine Stimme überhaupt bis zu dessen Ohren?

Selbst nach Einbruch der Nacht, als der Koloss längst nicht mehr in Sicht war, verweigerte sich Aaron jede noch so kurze Rast. Er musste dieses Monstrum zur Rechenschaft ziehen.

Erst als der Junge hinfiel, weil das, was er im Dunkeln für einen Stein gehalten hatte, unter seinem Gewicht nachgab, sah er es ein: Dieser Jagd war er nicht gewachsen.

“Seltsam”, sagte Aaron zu sich selbst. Er tastete das rundliche Ding, wegen dem ihm das Knie blutete, vorsichtig ab. “Ist das …”

Die raue Schale, der herbe Geruch, die ovale Form, Aaron hatte davon gehört: Das hier, das war eine Atlas-Frucht. Man sagte ihnen nach, auf den Häuptern der Riesen zu wachsen, so hatte es jedenfalls der Schmied berichtet. Ebenso selten wie teuer waren sie, diese Früchte, was an ihrer Wirkung lag.

Wer eine Atlas-Frucht isst, mein Junge, der wird stärker als jede Bestie. Der kann selbst meine Schwerter verbiegen.

Aaron hatte kein Geld und keine Ahnung, wie er so ganz allein eigentlich überleben sollte. Aber er hatte Hunger, riesigen Hunger. So biss er nun in diese Frucht hinein, die übler nicht schmecken könnte. Und er würgte das Fruchtfleisch herunter, während ihm der Saft vom Kinn tropfte. Oder waren es die Tränen, die ihn jetzt, am Rande der Erschöpfung, übermannten?

Der Schmied hatte die Wahrheit gesprochen. Als Aaron aus seinem Schlummer hochschreckte und an sich herabsah, wollte er seinen Augen erst nicht trauen: Seine Kleider hielten nur mehr mit äußerster Not zusammen und ließen den Großteil seiner Arme und Beine unbedeckt – das Schuhwerk hatte es glatt entzweigesprengt. Über Nacht war er gewachsen, seiner ersten Einschätzung nach um mehr als das Doppelte.

So tief der Schreck über diese plötzliche Veränderung auch saß, ließ sich nicht von der Hand weisen, dass sie Aaron Zuversicht schenkte. So hartnäckig sich die Hilflosigkeit vom Vorabend auch hielt, fühlte er sich seiner Aufgabe jetzt wenigstens ein Stück weit gewachsen.

Bevor der Junge aber seine Jagd auf den Riesen fortsetzte, wollte er sich ein paar Münzen verdienen, um neue Gewänder zu kaufen. In der nächsten Ortschaft bot er daher seine Dienste an – als Jägerssohn war er mit der Natur ebenso vertraut wie im Umgang mit einer Vielzahl Werkzeuge. Und sei auch nur ein starker Arm vonnöten, den konnte der über Nacht auf Mannsgröße herangewachsene Bursche ebenfalls bieten.

Man sah ihn stutzig an, wie er mit seinen zerschlissenen Gewändern des Weges kam und mit glockig heller Knabenstimme sprach. Vermutlich war es eher Mitleid denn echte Not, die ihm ein paar erste Aufträge bescherte: Erst galt es, einen Hausputz zu bewältigen, anschließend wollte ein Bücherregal neu sortiert werden, und nachdem man ihn als tüchtigen Arbeiter wahrgenommen hatte, durfte Aaron auch beim Bau einer Scheune mithelfen.

Neu eingekleidet und mit einem ganz beschaulichen Taschengeld in seinem Münzbeutel setzte Aaron seine Reise fort. Als nächstes Ziel hatte er die nahe Stadt auserkoren, denn wie ihm die Dorfbewohner berichtet hatten, suchte man dort nach Wegen, das Riesenproblem anzugehen.

Es gab viele Möglichkeiten, sich nützlich zu machen, doch nur eine davon sagte Aaron zu: Er wollte an vorderster Front stehen und eigenhändig diese Plage bekämpfen, unter der die Menschen allerorten litten. Dass man einem Knaben wie ihm eine solch gefährliche Aufgabe nicht aufbürden würde, war ihm bewusst, daher verschwieg Aaron kurzerhand sein Alter. Überhaupt machte er sich das Schweigen zur Gewohnheit, damit ihn auch seine hohe Stimme nicht entlarven konnte.

Man gab ihm eine Waffe – ein schweres Beil –, unterzog ihn einer rudimentären Ausbildungen in den Grundlagen des Kampfes und stellte ihm jeden Tag drei Schüsseln dampfenden Brei hin. Bereits beim ersten Bissen bemerkte Aaron die vertraute Geschmacksnote, sodass er sich im Gegensatz zu den anderen Rekruten nicht wunderte, als ihm die Glieder abermals länger wurden.

“Um einen Riesen zu töten, braucht es wohl einen Riesen”, sprach irgendwann jemand die Wahrheit aus, die keiner hören wollte.

In seinem ersten Kampf trat Aaron einem zotteligen Kerl entgegen, der vor den Mauern der Stadt sein Unwesen trieb und sich am Vieh der Bauern den Wanst stopfte. Splitternackt war er, doch allein durch seine Größe weckte sein Erscheinungsbild in Aaron eine tiefsitzende Furcht. Zählte dieser Wilde mit dem Schweineblut an Lippen und Kinn bereits als Riese?

Ein Kämpfer war er jedenfalls nicht, weshalb ihn Aaron, der mittlerweile nicht bloß Jägerssohn und damit nächster Verwandter des Kämpfers war, sondern selbst die Grundlagen des Kampfes beherrschte, im Zweikampf niederstrecken konnte. Ihre Auseinandersetzung hatte vor dem Stall begonnen, gefolgt von einem kurzen Zwischenspiel auf dem benachbarten Acker, bevor es mit einem Sturz gegen die Scheune zu Ende gegangen war. Die Bretter und Balken waren wie trockenes Stroh eingeknickt und unter dem Gewicht des riesenhaften Kerls zerbrochen.

Aaron wuchs weiter, ebenso taten es die Unruhestifter, die zu töten er ausgesandt wurde. Je höher seine Gegner aufragten und je mehr sie ihn an den Riesen erinnerten, der einst seine Heimat verwüstet hatte, desto wilder stürzte sich Aaron in den Kampf und desto unbarmherziger riss er ihnen das Leben aus dem Leib.

Für seine Verdienste suchte ihn an einem schwülen Sommertag der Stadtherr auf, der selbst ebenfalls von höherem Wuchs als gewöhnliche Menschen war. Der Mann hielt Aaron eine besonders große und wohlgeformte Atlas-Frucht hin, nach welcher sich der Junge bückte. Vorsichtig nahm er das wertvolle Geschenk entgegen, ganz darauf bedacht, es ja nicht zwischen seinen Fingerkuppen zu zerdrücken.

“Sagt, Krieger, findet Ihr es nicht auch verkehrt? Sprießen aus dieser teuflischen Frucht nicht die Wurzeln dieser Plage, welcher Ihr Euch täglich entgegenstellt?”

Eine geeignete Antwort wollte Aaron nicht einfallen, aber das war auch nicht nötig, galt er doch als stumm. So verneigte er sich vor seinem Herrn und legte sich die Frucht auf die Zunge.

Das Laub auf den Bäumen hatte sich bereits verfärbt, als sich der Vorfall ereignete. Aaron hatte soeben eine Auseinandersetzung gegen einen, der mit Sicherheit als echter Riese galt, für sich entschieden, da wurde er einer Stimme gewahr. Wobei, es war mehr eine Folge von Lauten, ein jeder so unsagbar dünn, dass es Aaron nicht länger gelang, den Sinn zu deuten. Dennoch verstand er, was sich ereignet hatte: Im Siegestaumel war er achtlos geworden, und nun lag dort, in seinem Fußabdruck, ein kleiner, regloser Körper.

Da verstand Aaron, dass die Menschen auch in ihm einen Riesen erkannten.

Entschuldigen wollte er sich für das Versehen, schließlich hatte er niemandem ein Leid zufügen wollen. Doch wie ließ sich der Tod eines Menschen als Versehen abtun? Die Sorgen hinter Aarons Stirn mehrten sich, eine jede davon wollte hinaus. Als er jedoch den Mund öffnete, entwich bloß ein anhaltender Klagelaut. Er hatte das Sprechen verlernt.

Scham und Verzweiflung trieben Aaron zur Flucht – er hatte seinen Herrn wie auch sich selbst enttäuscht.

Drei Tage und drei Nächte irrte er allein umher und mühte sich an der Frage ab, was ihm jetzt zu tun blieb. Hatte er überhaupt noch ein Recht darauf, Jagd auf die Riesen zu machen, wo er selbst dazu zählte?

Diese Frage zu beantworten, war nicht leicht. Es erforderte Zeit zum Nachdenken. Zeit, die Aaron nicht gewährt wurde. Vermutlich hatte man den Stadtherrn zwischenzeitlich darüber in Kenntnis gesetzt, dass sein einst so tüchtiger Diener außer Kontrolle geraten war, denn am vierten Tag tauchte einer auf, der Aaron nach dem Leben trachtete.

“Soll das mein Schicksal sein? Mich schlachten zu lassen?”

Nachdem er dem Angreifer nach langem Kampf den Schädel gespalten hatte, sank Aaron zusammen und umfasste mit blutbeschmierten Händen seinen Kopf. Er wusste weder ein noch aus. So viel er die letzten Monate auch gewachsen war, und so sehr sich seine Kräfte gemehrt hatten, fühlte er sich genau wie zu Beginn seiner Reise: Wie ein Kind. Ein entsetzlich hilfloses Kind, dessen jeder Muskel schmerzte, und das von entsetzlichem Hunger geplagt wurde. Letzten Endes handhabte er es genau wie damals, nämlich indem er sich satt fraß – ob nun die Atlas-Frucht oder Atlas selbst seinen Hunger stillte, wo war der Unterschied? – und wider jede Wahrscheinlichkeit den Blick nach vorn richtete.

Als ihn eine Woche später wieder der Hunger quälte, kreuzte Aaron den Weg einer Riesin, der es ähnlich erging. Die Frau kniete am Rand eines Dorfes und pflückte sich die sättigenden Menschlein von der Straße, aus den Häusern und von den Ackern – Männer wie Frauen, Erwachsene wie Kinder. Zum Sprechen nicht länger fähig, gab sie Aaron mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie zum Teilen gewillt war. Eine schlichte Geste, doch löste sie in Aaron unsagbar viel aus. Nachdem er so viele von ihnen getötet hatte, begrüßten ihn die Riesen dennoch als einen der ihren.

Aaron setzte sich zur Riesin und legte seine Arme um sie. Mit seinen Fingern tastete er sich zu ihrem Hals voran und verharrte in dieser Position. Er horchte in sich hinein, suchte nach Zweifeln. Was er fand, war jedoch Gewissheit: “Ich bin nicht wie du!” So drückte er nun zu und brach der Frau das Genick. Anschließend bohrte er seine Zähne in ihr Fleisch und riss ihr einen Fetzen aus dem Hals. Niemals würde er seinen Hunger an den kleinen Kreaturen stillen.

Der einen Welt war er entwachsen, zur anderen wollte er nicht gehören. Was verhießt das nun für ihn?

Völlig ratlos betrachtete er die winzigen Menschlein zu seinen Füßen, die er soeben vor dem Schlimmsten bewahrt hatte. Sicher gab es auch unter ihnen welche, die nach Rache dürsteten. Und womöglich fasste ja einer einen ähnlichen Plan wie er selbst damals. Oder war längst einer im Begriff, mit einem spitzen Stock bewaffnet an ihm hochzuklettern, um ihn mit einem gut gezielten Stich zu erledigen?

Warum warten! Er bückte sich hinab und griff behutsam nach einem Knaben, der ungefähr in seinem Alter war. Den setzte er sich auf die Schulter und wartete darauf, dass der Bursche zur Tat schritt. Doch so lange er auch wartete, nichts geschah.

“Du … du willst uns nichts zuleide tun, oder? Du hast uns doch geholfen, stimmt’s?”

In Aarons Kehle schwoll ein Klagelaut heran.

“Aber du bist traurig, ich seh’s dir an.”

Traurig, ja. Traurig und müde, die Hände seit Wochen blutig, zitterten sie jetzt vor seinen Augen. Und einsam. So fürchterlich einsam.

“Vielleicht mache ich es mir zu einfach, aber du bist stark und dir scheint an deinen Brüdern und Schwestern nicht viel zu liegen. Du könntest uns Menschen beschützen.”

Aaron deutete mit dem Finger auf seine Fußsohle. Das Klagen wollte hinaus.

“Warte … ja, ich verstehe. Deshalb hast du mich hochgeholt: Du brauchst jemanden, der dir hilft, richtig? Einen von uns Menschen, für dich die Augen offen hält, damit du nicht irgendwo drauftrittst. Oh weh … ist auch ganz schön hoch hier!” Die Stimme des Jungen wurde lauter und klarer verständlich, er hatte sich wohl bis zu Aarons Ohr hochgearbeitet. “Weißt du, irgendwie habe ich ein gutes Gefühl bei der Sache. Als könnte ich mit deiner Hilfe richtig was bewirken – ein Abenteuer erleben, wie es in meinem Alter ganz bestimmt noch keiner erlebt hat.“ Ein hohes, glucksendes Lachen verlor sich in Aarons Ohr. „Also los, großer Freund, gehen wir!”

Aaron gehorchte und ging mit schweren, stampfenden Schritten dorthin, wo ihn der Junge hinschickte.

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  • Luc wurde sein ganzes Leben lang liebevoll als Spinner bezeichnet, was er als Aufforderung zum Verfassen etlicher Fantasy- und Science-Fiction-Geschichten verstanden hat. Als Frontmann der Band Mindpatrol zeigt er außerdem, dass er ganz doll laut schreien kann. Manchmal kombiniert er beides, was er dann als "künstlerisch wertvoll" bezeichnet.

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